Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. (ADFC)

In Bogotá ist jeder Sonntag autofrei

Melissa Gómez ist in der Hauptstadt Kolumbiens aufgewachsen und erzählt im Interview über die Mutter aller Programme für autofreie Straßent: die Ciclovía. Das riesige wöchentliche Stadtfest ist aus Bogotá nicht mehr wegzudenken – seit 50 Jahren.

Melissa Gómez arbeitet beim ADFC und kennt die Ciclovía genau.
Melissa Gómez arbeitet beim ADFC und kennt die Ciclovía genau. © ADFC/Deckbar Photographie

Interview mit Melissa Gómez, wissenschaftliche Referentin für Verkehr beim ADFC, zur Ciclovía in Bogotá

Sie ist in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá aufgewachsen. Die Stadt hat 7,2 Millionen Einwohner, liegt auf 2.600 Metern Höhe und hat seit 50 Jahren die Ciclovía. Das riesige wöchentliche Stadtfest ist aus Bogotá nicht mehr wegzudenken.

Jeden Sonntag sperrt die Stadt dafür 120 Kilometer ihrer Straßen für Autos und 1,5 Millionen Menschen genießen den freigewordenen Straßenraum. Statt Blech, schmutziger Luft und Stau gibt es dann Sport, Spiel, Kunst, Tanz, Musik, Gemeinschaft und einfach pure Freude. Melissa Gómez berichtet im Interview über die Mutter aller Programme für autofreie Straßen in der Welt.

Wie ist die Ciclovía entstanden?
Sie wurde vor 50 Jahren von einer Bürger:innen-Initiative aus der Taufe gehoben. So wollte man die Aufmerksamkeit der Menschen und der Politik auf den massiven Autoverkehr in Bogotá lenken. Damals fand die Ciclovía auf einer Länge von fünf Kilometern als Fahrraddemo zwischen zwei großen Parks statt. Aber schon beim ersten Mal nahmen 5.000 Leute teil. Danach wurde sie einige Jahre jeden Sonntag als Modellversuch fortgeführt.

Die Wende kam 1995: Damals entschloss sich die neue Stadtregierung, die Ciclovía massiv zu fördern. Während bis dahin die Verkehrsaspekte im Vordergrund standen, sollte es nun vor allem um Gesundheit, Bildung, Umwelt und Lebensqualität gehen. Der Bürgermeister steckte enorm viele Ressourcen in die Organisation. Und machte die Ciclovía zu einem gesellschaftlichen Highlight, das längst zur DNA von Bogotá gehört.

Was genau passiert auf der Ciclovía?
Jeden Sonn- und Feiertag sperrt die Stadt von 7 Uhr morgens bis 14 Uhr mittags 120 Kilometer ihrer Straßen für den Autoverkehr – und zwar die Hauptstraßen in der ganzen Stadt. So ist die Ciclovía für jeden Einwohner und jede Einwohnerin von Bogotá in nur fünf Minuten erreichbar. Alle Menschen, ob jung, alt, gesund oder gebrechlich, arm oder reich, sollen sich den frei gewordenen Raum auf ihre Art aneignen können.

Es gibt Angebote über Angebote für Sport- und Spielmöglichkeiten, es gibt Ausstellungen, Konzerte, Street Food und vieles mehr. Bei keiner Ciclovía macht man die gleiche Erfahrung – es gibt wöchentlich neue Angebote. Inzwischen feiern jeden Sonntag insgesamt 1,5 Millionen Menschen in den Straßen – und es macht unglaublich viel Spaß.

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Was macht den Reiz der Ciclovía aus, dass sie nach 50 Jahren immer noch so gefeiert wird?
Zentral für den Erfolg ist, dass die Ciclovía sehr einfach in das eigene Leben zu integrieren ist. Alle Einwohner:innen können ohne Aufwand umgehend an ihr teilnehmen. Es gibt Sonntagmorgen nichts Einfacheres, Besseres und Cooleres zu tun, als zur Ciclovía zu gehen. Hier sind die Menschen die Hauptfiguren, alles ist für sie geplant – und das merken und schätzen sie sehr. Ich persönlich plane meine Besuche in Kolumbien immer so, dass ich mindestens eine Ciclovía mitnehme.

Gibt es Untersuchungen dazu, was die Ciclovía für einen Mehrwert der Stadt und den Menschen bringt?
Es wurde viel geforscht zur Ciclovía. Die Luftverschmutzung sinkt während der Veranstaltung in der Stadt um 13 Prozent. Der Lärmpegel sinkt um 20 Dezibel. Der Geräuschpegel wird so etwa siebenmal weniger laut wahrgenommen als im Alltag. Die Ciclovía fördert nachgewiesenermaßen die aktive Mobilität. Die Menschen erleben, wie schön es sein kann, mit dem Fahrrad entspannt und sicher unterwegs zu sein. So probiert man das Fahrrad auch eher einmal im Alltag aus. Dadurch kam es auch zu mehr gesellschaftlichem Druck für mehr Radwege.

Und die Politik hat nachgezogen: Bogotá hat eine gute Radinfrastruktur geschaffen, sie ist nicht perfekt, aber sie ist die größte, die es in Südamerika gibt. Und es gibt nachweisbar viele soziale Vorteile, so ist beispielweise soziale Zusammenhalt in der Stadt messbar größer geworden.

Wie führt die Ciclovía dazu, dass sich der soziale Zusammenhalt verbessert?
Bogotá ist eine sehr segregierte Stadt: Der sehr reiche Norden ist komplett getrennt vom armen Süden. Und die Stadt hat – abgesehen von der Ciclovía – noch immer erhebliche Mobilitätsprobleme. Man ist deswegen normalerweise nicht viel in den anderen Stadtteilen unterwegs.

Die Ciclovía schafft jedoch die Gelegenheit, dass die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen und andere Teile der Stadt besucht werden. Man ist mit vielen Menschen zusammen, denen man im Alltag nie begegnet. Die Straßen werden zu einer Plattform für die Gesellschaft. Es kommen Familien, Kinder, alte Menschen, Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen und aus allen Ecken der Stadt, die den öffentlichen Raum gemeinsam genießen.

Ist es realistisch, dass sich die Ciclovía auch in deutschen Kommunen etabliert?
Weltweit haben bereits mehr als 100 Städte das Modell kopiert. Das bedeutet, es geht, natürlich. Wenn Bogotá, eine Megacity wie London, jedes Wochenende die Straßen gesperrt bekommt, dann geht das wirklich überall sonst auch. Man muss die Ciclovía natürlich an die lokalen Bedingungen anpassen. Aber ich kann jeder deutschen Kommune nur empfehlen, die Ciclovía bei sich einzuführen. Sie ist wirklich ein absoluter Gewinn für das Zusammenleben!

Worauf sollten Kommunen besonders achten, wenn sie eine Ciclovía einführen möchten?
Man muss das Rad nicht neu erfinden. Es gibt ja schon autofreie Veranstaltungen wie die Fahrradsternfahrt. Die wird als Demonstration angemeldet, was man auch jedes Wochenende tun kann. Wichtig ist, eine Ciclovía nicht als eine politische Veranstaltung zu behandeln, sondern als eine große Feier, die sich wirklich an alle Menschen in der Stadt richtet. Es sollten unbedingt alle Hauptstraßen gesperrt werden, damit es nur wenig Aufwand braucht, um zur Ciclovía zu kommen. Der frei gewordene Raum sollte mit Aktivitäten und Aktionen von hoher Qualität bespielt werden.

In Bogotá wurde extra ein Bürgerrat eingerichtet, bei dem man sich mit Ideen bewerben kann. Der Rat stellt sicher, dass die Aktionen wirklich hochwertig sind. Erfolgsversprechend ist es auch, wenn die Verwaltung und die örtliche Regierung in die Planung einbezogen werden oder gleich direkt die Organisation und auch die Finanzierung übernehmen.

Die Ciclovía kostet Bogotá drei Millionen Dollar pro Jahr. Für 1,5 Millionen Teilnehmer:innen pro Woche, 70 mal im Jahr sind diese Kosten angesichts der großen positiven Auswirkungen sehr gering. So spart die Stadt für jeden investierten Dollar drei Dollar an Gesundheitskosten. Die Ciclovía lohnt sich – auch finanziell!


https://www.adfc.de/artikel/in-bogota-ist-jeder-sonntag-autofrei

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