ADFC-Symposium 2017: Deutschland braucht die Verkehrswende
Der ADFC lud am 10. November 2017 zum Symposium „Deutschland braucht die Verkehrswende. Und die Verkehrswende braucht das Fahrrad. Jetzt!“ ein. Eine hochkarätige Veranstaltung mit spannenden Denk- und Diskussionsansätzen.
Der ADFC ist ungeduldig, betonte der Bundesvorsitzende des Verbands, Ulrich Syberg, zu Beginn der Veranstaltung. Diesel-Skandale, Feinstaub, Fahrverbote – es muss endlich die Diskussion geführt werden, wie wir leben wollen. Wer in den Städten etwas verändern will, muss den Modal Split verändern und eine Investitionswelle auslösen.
Kollektiv neurotisch
Einen kritischen Blick auf die Autolibido der Deutschen warf die Schriftstellerin Tanja Dückers. Die Bindung der Deutschen an ihr Auto sei so groß, dass ein Führerscheinentzug einer Kastration gleichkomme und spätere Generationen dieses Verhältnis als kollektiv neurotisch bezeichnen könnten. Vielleicht aber lieben die Deutschen eines Tages auch ihr Fahrrad so wie das Auto. Immerhin entscheiden Jugendliche heute pragmatisch, welches Verkehrsmittel sie nutzen. Auch bei den 30- bis 50-Jährigen zieht das Freiheitsversprechen der Automobilindustrie nicht mehr, sie entdecken das Carsharing für sich.
Politischer Willen schuf das Autoland
Dr. Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) betonte, dass seit Mitte der 1950er-Jahre der politische Wille bestand, das Eisenbahn-, Fahrrad- und Motorradland zum Autoland umzuwandeln – mit dem Ziel, jeder Haushalt sollte über eine Waschmaschine, einen Kühlschrank und ein Auto verfügen.
Heute lässt sich angesichts der Probleme sagen, dass diese Verkehrspolitik nicht gelungen ist: Die Konkurrenz um die Fläche, der durch die Verkehrsmassen ausgelöste Stress und die erhöhte Unfallgefahr, die damit einhergehenden Gesundheitsprobleme sowie der volkswirtschaftliche Schaden durch Staus und die Abhängigkeit vom Öl zählen zu den Problemen.
Mobilitätsform wichtiger als Marke
Dennoch scheint ein Umdenken nicht nach den Regeln der Logik zu erfolgen: In Wien wurde der ÖPNV gut ausgebaut und auch verstärkt genutzt, gleichzeitig werden immer mehr SUV oder Porsche als Dienstwagen zugelassen. Während in Frankreich (2040), Schottland und Indien (2030), in den Niederlande, Norwegen und in Städten wie Paris, Helsinki und Mailand (2025) der Verbrennungsmotor abgeschafft werden soll. Und China setzt ab 2019 auf „zero emission“-Fahrzeuge.
Umfragen bei Carsharing-Nutzern zeigen, dass der Einstieg oft über den Wunsch erfolgt, eine bestimmte Marke oder ein bestimmtes Modell zu fahren. Am Ende aber melden sich die Nutzer bei verschiedenen Anbietern an, da ihnen die Verfügbarkeit dieser Art der Mobilität wichtiger ist, als die Marke. Sinkt das Markenbewusstsein, verlieren die Marketingstrategen der Autoindustrie ihre Kernbotschaft.
Der Boom der innovativen Dienstleistungen finde außerhalb der Autoindustrie statt, so Canzler und nennt Uber, Google, Tesla, Apple und kleinere Anbieter. Neben Car- und Bikesharing ermögliche die Digitalisierung auch eine neue Form des Sammeltaxis, bei der viele ein Fahrzeug nutzen. Die Verkehrswende brauche die E-Mobilität. Dabei gehe es aber nicht nur um den Austausch der Antriebsart, sondern auch um Vernetzung, Brennstoffzellen, Pedelecs und E-Scooter sowie Dienstleistungen. Ebenfalls unverzichtbar sei aber auch die aktive Mobilität mit kurzen, direkten Wegen, mit einer angst- und gefahrenfreien Infrastruktur und ohne Luft- und Lärmprobleme. Mit Experimentalräumen, also zeitlich und räumlich begrenzten Plätzen, will Canzler ausprobieren, welche Arten von Infrastruktur und Raumgestaltung sich für die postfossile Mobilität eignen.
81 Mio. überflüssige Autofahrten
Burkhard Stork sprach von einer sich selbst verstärkenden Krise. Der Bundesgeschäftsführer des ADFC führte aus, dass die Masse der Fahrten mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) absolut unnötig sei. Selbst Wege unter einem km werden zu 22,3 % mit dem MIV zurückgelegt, bei 1-2 km sind es schon 52,8 %, bei 2-5 km 65 %. Insgesamt sind das 81 Mio. überflüssige Fahrten, zählt man noch die 32,4 Mio. Fahrten zwischen 5 und 10 km hinzu, die ebenfalls noch Fahrraddistanzen sein, ließe sich der gesamte MIV in Deutschland um 80 % reduzieren.
Zu Bildern von verstopften Straßen zitierte Stork den ehemaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, der mit dem autonomen Fahren noch 40 % mehr Verkehr auf die Straße bekommen und das autonome Auto zu einem Lebensmittelpunkt neben dem Büro und Zuhause machen wollte – und löste so Gelächter und ungläubiges Kopfschütteln beim Publikum aus. Die Lösung, so Stork, könne nur sein, die Radverkehrsförderung im System anzugehen und die aktive Mobilität zur Basismobilität zu erklären.