Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. (ADFC)

Dr. Peter Zeile will wissenschaftliche Diskussion jenseits der Gefühle anstoßen

Dr. Peter Zeile forscht zur empfundenen Sicherheit beim Radfahren – aktuell im Projekt ESSEM, bei dem der ADFC Projektpartner ist. Im Interview erklärt er, was Radfahrende stresst und welche Bedeutung seine Forschung für die Verkehrswende hat.

Stressforscher Dr. Peter Zeile
Stressforscher Dr. Peter Zeile © Patrik Langer/KIT

Dr. Peter Zeile vom Karlsruher Institut für Technologie forscht seit rund 15 Jahre zu Emotionen im Straßenverkehr. Er beschäftigt sich dabei auch regelmäßig mit der empfundenen Sicherheit beim Radfahren – aktuell im Projekt ESSEM. Der ADFC ist als Projektpartner beteiligt und vor allem für die Bereiche Öffentlichkeitsarbeit sowie Kommunikation zuständig und unterstützt bei der Suche nach Testpersonen. ESSEM untersucht Einflussfaktoren auf das Stressempfinden von Radfahrenden, um Radfahren sicherer und komfortabler zu machen. Im Interview erklärt er, was Radfahrende am meisten stresst und welche Bedeutung seine Forschung für die Verkehrswende hat.

Was stresst Radfahrende im Straßenverkehr am meisten?

Das ist natürlich ein Stück weit individuell unterschiedlich und abhängig davon, wie routiniert die Radfahrerin oder der Radfahrer im Straßenverkehr ist und wie anfällig sie im Allgemeinen für Stress sind. Für die meisten ist der eigene Abbiegevorgang stressig – vor allem das Linksabbiegen. Aber auch Situationen, in denen Radfahrende von Kraftfahrtzeugen überholt werden oder Fußgängerinnen und Fußgängern begegnen, empfinden viele als Stress. Stressige Situationen entstehen auch oft an Stellen, an denen die Orientierung nicht so leicht ist und Radfahrende nicht auf Anhieb erkennen können, welche Spur sie nehmen müssen. Und sehr spannend ist: Auch lange Wartezeiten an roten Ampeln stressen Radfahrende.

Als Teil Ihrer Forschung machen Sie Gefühle messbar. Wie misst man etwas so Subjektives wie Stress?

Wir definieren Stress als ein emotionales Konstrukt aus Ärger und Angst. Diese beiden Parameter können wir über die Hautleitfähigkeit und die Hauttemperatur messbar machen. Für unsere Forschung nutzen wir dafür eine Technologie, die das kann. Steigt die Hautleitfähigkeit und fällt kurz danach die Hauttemperatur, haben wir einen Hinweis darauf, dass der Mensch eine stressige Reaktion erlebt hat. Umgangssprachlich spricht man auch vom kalten Angstschweiß. Verbunden mit einer Geoposition kann man das auch verorten und so verhältnismäßig genau sagen, wo der Mensch in der Stadt Stress erlebt hat. Diese Stresspunkte lassen sich visualisieren – für einzelne Testpersonen, aber auch gebündelt. Auf den sogenannten Heatmaps liegen die Messdaten zusammengefasst als Dichtekarte übereinander. So können wir die Stress-Hotspots identifizieren, also die Orte, die viele Menschen als stressig empfinden.

Sie forschen schon lange zum Sicherheitsempfinden beim Radfahren im Straßenverkehr und stellen Ihre Daten Städten und Kommunen für deren Radverkehrsplanung zur Verfügung. Hat sich die Bedeutung des Radverkehrs für die Verkehrsplanung in den letzten Jahren verändert?

Ich denke schon. Zum einen merkt man, dass der Radverkehr auf Seiten der Politik an Bedeutung gewonnen hat. Man sieht das an den Förderprogrammen, die mittlerweile ausgeschrieben werden und die es uns einfacher machen, in diesem Kontext zu forschen oder an den Projekten, die durch den Nationalen Radverkehrsplan auf den Weg gebracht wurden. Zum anderen spürt man es aber auch deutlich innerhalb der Bevölkerung. Neue Gruppen haben das Radfahren für sich entdeckt, was sicherlich auch an der zunehmenden Verbreitung der Pedelecs liegt. Sie machen das Radfahren für viele bequemer, einfacher und für manche überhaupt erst wieder möglich.

Wir können den Städten und Kommunen unsere Messungen in größerem Umfang erst seit ein bis zwei Jahren zur Verfügung stellen. Wir haben damit aber immer offene Türen eingerannt, wenn wir gesagt haben, wir würden gerne Projekte mit euch machen. Den Planern und Planerinnen und den Kommunen war immer klar, dass sie in den Bereich Umwelt und Verkehrsreduktion, autofreie Innenstädte und so weiter mehr machen müssen, aber gerade durch Corona ist das noch stärker ins Bewusstsein und auf die politische Agenda gerückt.

Der ADFC befasst sich seit Jahren mit dem gefühlten Sicherheitsempfinden und betont immer wieder die Bedeutung für die Verkehrswende mit dem Fahrrad im Mittelpunkt. Wie kann Ihre Forschung zu mehr Radverkehr und der Verkehrswende beitragen?

Wir hoffen, dass wir ein kleiner Baustein für die Verkehrswende sein können und zwar in dem wir versuchen, herauszufinden, aus welchen Gründen jemand eine Strecke mit dem Rad nicht nutzt. Stressige Punkte zu visualisieren, sie so in den Fokus zu rücken und dabei zu helfen, Lösungen zu finden, um sie zu beseitigen – das ist unsere Mission.

Wir wollen eine wissenschaftliche Diskussion jenseits der Gefühle anstoßen. Mit unserer Forschung können wir zeigen, dass beispielsweise zehn von 20 Leuten an einer bestimmten Kreuzung oder an einer anderen Stelle einfach unheimlich viel Stress haben – und das sind nur die, die wir erfassen, also die, die ohnehin schon Fahrrad fahren. Für andere sind vielleicht genau diese Kreuzung oder die andere stressige Stelle das Hemmnis, das sie davon abhält, sich aufs Rad zu setzen. Wenn wir dabei helfen können, solche Hürden abzubauen, ist schon sehr viel gewonnen.

Mit Ihrer Forschung wollen Sie Radfahren sicherer und komfortabler – und damit auch Städte stressärmer machen. Wie sieht eine stressfreie bzw. stressarme Stadt aus?

Eine ganz stressfreie Stadt ist eine tote Stadt. Wenn Menschen aufeinandertreffen, gibt es immer Konflikte. Das kann man nie ganz vermeiden. Was wir machen können, ist auf Konflikte hinzuweisen und zu zeigen, wo können potenzielle Gefahren lauern. Wir wollen nicht überregulieren, aber dabei helfen, solche konfliktbehafteten Situationen und Orte zu identifizieren und zu schauen, was kann man hier besser machen.

Mit den hohen Temperaturen im Sommer sollen auch die Aggressionen im Straßenverkehr gestiegen sein, diese nehmen gefühlt ohnehin seit Jahren zu. Können Sie das anhand Ihrer Forschung bestätigen und haben Sie Tipps, wie sich Aggressionen und Stress vermeiden lassen?

Zum Einfluss von Temperaturen können wir mit unserer Forschung bisher keine Aussage treffen. Dafür haben wir noch zu wenig Vergleichsmöglichkeiten, weil die Sensoren früher verhältnismäßig anfällig waren und wir immer nur bei gutem Wetter gefahren sind. Wir haben jetzt mehr Möglichkeiten und wollen innerhalb des Projekts Winter- und Sommermonate vergleichen, aber damit haben wir erst angefangen.

Was aber immer hilft, um Stress und Aggression im Straßenverkehr zu vermeiden, ist der Perspektivwechsel: Viele Radfahrende fahren auch Auto und viele Autofahrende auch Rad. Man hat mehr Verständnis für einander, wenn man die Bedürfnisse des anderen kennt. Auch das Zeitmanagement spielt eine große Rolle. Wenn ich zwei Minuten vor Abfahrt an der Bushaltestelle bin, habe ich deutlich weniger Stress, als wenn ich rennen muss, um ihn noch zu erwischen. Genauso ist es auch beim Auto- oder Radfahren. Wenn ich meine Reisezeiten großzügiger kalkuliere, sind stressige Überholmanöver nicht notwendig. Stress lässt sich auch vermeiden, wenn bei der Fahrt nicht mit zu engen Abständen beim Umsteigen geplant wird.


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