Ausprobiert: Nachzügler
In der Radwelt-Ausgabe 4.2024 haben wir im Artikel "Antriebswende" neue Schaltungs- und Antriebssysteme vorgestellt. Ein Testrad konnte nicht rechtzeitig geliefert, ein anderes nicht ausreichend beschrieben werden – hier kommen die Fahrberichte.
Das Testrad mit der Naben-Kettenschaltungskombination von Classified traf einige Tage nach Redaktionsschluss ein. Das Modell Vuca EVO FSX 1 von Bulls war zwar rechtzeitig da, die Beschreibung des komplexen Pinion-MGU-Antriebs ließ aber keinen Raum für den Blick auf das Rad selbst. Hier kommen nun die Praxiseindrücke.
Classified Powershift
Umwerfer waren immer eine Schwachstelle von Kettenschaltungen. Trotz vieler Verbesserungen über die Jahre kann die Kette nie unter hoher Last das Kettenblatt wechseln, und immer wieder schleift die Kette in bestimmten Gängen am Umwerfer oder wird abgeworfen.
Der Trend, vorne nur ein Kettenblatt zu haben, löst zwar viele Probleme, geht aber auf Kosten feiner Gangsprünge und großen Übersetzungsumfangs. Die Lösung von Classified umfasst eine Zweigang-Nabenschaltung in Kombination mit einer Kettenschaltung. Die Nabe übernimmt die Funktion des Umwerfers. Das erinnert an frühere Systeme von Sachs und später Sram, die aber eher den Alltags- und Tourenbereich im Blick hatten, weniger Sport und Wettkampf, wie es bei Classified der Fall ist.
Übersetzungen
Die Nabe bietet ein Übersetzungsverhältnis von 0,67. Kombiniert mit einem Kettenblatt von 50 Zähnen ist das in etwa gleichbedeutend mit einem 34er Kettenblatt. Kombiniert wird das mit Kassetten mit elf, zwölf oder dreizehn Ritzeln, je nach verwendeter Kettenschaltung. da keine herkömmlichen Kassetten auf die Classified-Nabe passen, stellt die Firma selbst welche her.
Sie sind in verschiedenen Abstufungen erhältlich, um die Übersetzungsbandbreite und Gangsprünge an die jeweiligen Ansprüche anpassen zu können. Rennradfahrende legen zum Beispiel viel Wert auf kleine Gangsprünge, während im Gelände eher die Bandbreite von Interesse ist.
Komponenten
Das Classified-System besteht neben Nabe und Ritzel noch aus Schalter, Sender und Schnellspannachse mit Empfänger. Für Rennrad- und Gravelbikes wird ein kleiner Druckknopf unter dem Lenkerband montiert, der per Kabel mit einer im Lenkerende sitzenden Sendereinheit verbunden ist. Dazu ist ein Lenker mit entsprechenden Bohrungen für Kabel nötig. Die Sendereinheit funkt die Schaltbefehle an den Schnellspanner, der die Schaltmechanik in Gang setzt.
Für Mountainbikes gibt es einen Ringschalter für den Lenker. Dieser kommuniziert ebenfalls drahtlos mit der Nabe. Auch im Alltagsbereich will Classified Fuß fassen. Manche Hersteller bieten Elektrofahrräder mit Classified-Zweigangschaltung an.
Fahreindruck
Zum Ausprobieren schickte Classified uns ein Gravelbike vom Hersteller Open. Das Modell Wi de ist für den sportlichen Graveleinsatz oder fürs Bikepacking geeignet.
Zwei Fragen standen beim Praxistest im Mittelpunkt: Wie gut funktioniert die Nabenschaltung? Und wie gut die Kettenschaltung? Zwar stammen die Schaltkomponenten von Herstellern wie Sram oder Shimano, aber die Kassetten sind von Classified gefertigt. Und deren Konstruktion ist eine Wissenschaft für sich.
Zwei Mal erlebt man eine Überraschung: Die Nabe schaltet schnell und zuverlässig auch unter Last. Das ist um Längen besser als jeder Umwerfer. Der Schaltknopf sollte aber sorgfältig platziert werden, damit man ihn leicht erreichen, aber nicht aus Versehen schalten kann.
Das Gewicht des Laufrads erhöht sich natürlich durch die Schaltnabe, was sehr empfindsame Naturen beim Beschleunigen und Bergauffahren spüren können. Die funktionalen Vorteile dürften diesen Nachteil aber aufwiegen.
Auch die Kassette ist eine Überraschung, denn sie schaltet überraschend gut. Auch unter Last sind die Schaltvorgänge knackig, aber nicht krachend und immer zuverlässig.
Sinnvoller Einsatzbereich
In Disziplinen, bei denen feine Gangsprünge gefragt sind, wie beim Straßenradsport oder Gravelbiken, ist die Classiefied-Nabe eine echte Alternative. Beim Mountainbiken dagegen sind größere Gangsprünge vorteilhaft, weil die Steigungsgrade im Gelände schneller und stärker wechseln - man muss von einem Moment auf den anderen also eine deutlich andere Übersetzung ansteuern können. Dabei sind feine Gangsprünge eher hinderlich, weil man viel schalten muss.
Für Mountainbike-Touren sieht das aber schon wieder anders aus. Wer einen wartungsarmen Antrieb mit viel Übersetzungsumfang haben möchte, sollte über die Powershift näher nachdenken. Es gibt Kompletträder mit dem System, es lässt isch aber auch nachrüsten: Komplette Laufradsätze mit Nabe und den weiteren Komponenten starten ab etwa 1.000 Euro.
Fazit
Eine bekannte Idee in neuer Form überzeugend umgesetzt: Die Classified Powershift ist eine gute Wahl für sportliche orientierte Radfahrende, die eine gut funktionierende Alternative zum Umwerfer suchen und bereit sind, dafür einen einiges zu investieren.
Infos: https://www.classified-cycling.cc/
Bulls Vuca Evo FSX 1 mit Pinion MGU-Antrieb
Das Bulls geht in jeder Hinsicht aufs Ganze: Vollfederung, Riemenantrieb und die Motor-Getriebe-Einheit mit zwölf Gängen von Pinion sind mit das luxuriöseste, was der Fahrradmarkt derzeit zu bieten hat. Das hat seinen Preis: 6.999 Euro ruft der Hersteller auf für die Version mit dem Akku knapp unter 800 Wattstunden Kapzität, das Modell mit 1.055 Wattstunden kostet noch mal 200 Euro mehr. Die Zahl auf der Waage ist auch nicht ohne: Unser Testrad mit dem großen Akku wiegt knapp 31 Kilogramm verlangt nach einem ebenerdigen Abstellplatz oder kräftigen Armen.
Sehr komfortabel
Die über Luftdruck einstellbaren Federelemente, die versenkbare Sattelstütze und der große Akku mit fast 1.000 Wattstunden treiben das Gewicht nach oben. Dafür erhält man aber auch ein enorm komfortables Fahrerlebnis. Fahrbahnunebenheiten werden einfach geschluckt, und auch auf unbefestigten Wegen können weder Wurzeln, Steine noch Bodenwellen den Komfort trüben.
Dazu sitzt man recht aufrecht, was gute Übersicht über den Verkehr und viel Kontrolle über das Rad vermittelt. Die Versuchung ist deshalb groß, es auch im Gelände richtig laufen zu lassen, aber man sollte nicht vergessen, dass man nicht auf einem Mountainbike sitzt. Die Reifen des Vuca Evo sind zwar breit, aber nur leicht profiliert und gelangen daher auf weichen Untergründen an ihre Grenzen. Ganz klar aber: Der Fahrspaß ist enorm.
Sobald man vom Rad absteigt, muss man mit dem Fahrzeuggewicht klarkommen. Stufen oder Autoträger werden dann zur echten Herausforderung.
Antrieb überzeugt
Die Pinion MGU (Motor-Gearbox-Unit, deutsch: Motor-Getriebe-Einheit) konnte überzeugen. Die Tretlagergetriebe des Herstellers sind mittlerweile recht weit verbreitet, beim Elektroantrieb mit integriertem Schaltgetriebe, erhältlich mit neun oder zwölf Gängen, dürfte das ebenfalls nicht lange dauern. Wie in der Radwelt-Ausgabe 4.2024 beschrieben, konnte die Funktion des Antriebs voll überzeugen, insbesondere die Automatik-Funktion. Der Motor unterstützt harmonisch und kraftvoll, ohne aufdringlich zu schieben. Eine Wartung soll nur alle 10.000 Kilometer nötig sein. In Kombination mit dem Riemenantrieb ist das System also so wartungsarm wie kaum ein anderes.
Durch den großen Übersetzungsumfang (bei zwölf Gängen 600 Prozent, 568 Prozent bei neun Gängen) ist so gut wie jeder Anstieg mit angenehmer Trittfrequenz bezwingbar. Beide Akkugrößen ermöglichen auch lange Touren. Konkrete Kilometerangaben sind schwer möglich, da die Reichweite immer abhängig ist von Terrain, Gesamtgewicht und Fahrweise. Aber selbst in bergigen Gegenden dürften Tagestouren ohne Nachladen kaum ein Problem sein.
Kaum Kritikpunkte
Kritikpunkte gibt es dementsprechend nicht viele. Der Antrieb schaltet bei Stillstand automatisch in den Anfahrgang, so dass man nicht vor dem Anhalten schalten muss. Allerdings brauchen die Sensoren etwas Zeit, um sicher zwischen sehr langsamem Fahren und Stillstand zu unterscheiden. So kann es manchmal passieren, dass eine Ampel direkt nach dem Anhalten grün wird, die Schaltung aber noch nicht in den Anfahrgang gewechselt hat. Vielleicht wäre es sinnvoller, schon bei sehr langsamer Fahrt zu schalten, denn der Gang passt auch dann schon.
Mittelmotoren sind aufgrund ihrer integrierten Getriebe nicht geräuschlos, das gilt auch für Pinion. Aufgrund des integrierten Schaltgetriebes unterscheidet sich das Motorgeräusch beim MGU je nach eingelegtem Gang. Je schneller der Gang, desto leiser der Motor. In den leichtesten vier Gängen ist das Geräusch am lautesten und kann gerade bei ruhiger Umgebung als störend empfunden werden. Ob das so ist, sollte beim Kauf ausprobiert werden. Angesichts der Vorteile des Systems dürfte das aber kaum ein Grund gegen einen Kauf sein.
Voll ausgestattet
Zurück zum eigentlichen Rad. Das Bulls ist mit Beleuchtung, Schutzblechen und Gepäckträger voll alltagstauglich ausgestattet. Das zugelassene Höchstgewicht beträgt 150 Kilogramm. Trotz des Fahrzeuggewichts bleibt also noch Luft für Zuladung. Der Träger ist auf der Hinterradschwinge montiert, weshalb die Ladung Einfluss auf die Federung hat. Hinterrad, Schwinge und alles, was daran hängt, gehören zur ungefederten Masse. Je mehr Gewicht an der Schwinge hängt, desto träger reagiert die Federung. Die Zuladung am Gepäckträger wird zudem gut durchgeschüttelt. Empfindliches Transportgut kann also leiden, und zudem laute Geräusche machen. Besonders abseits befestiger Straßen kann das auf die Nerven fallen, wenn man die Ladung nicht gut abpolstert oder Gepäcktaschenhalterungen nicht spielfrei auf dem Träger sitzen.
Fazit
Das Bulls Vuca Evo FSX 1 bietet ein hochkomfortables Fahrerlebnis mit Vollfederung und Automatikschaltung. Die Komponenten sind hochwertig und wartungsarm. Dafür ist der Preis auch entsprechend hoch. Nachteile: Das hohe Gewicht erschwert die Handhabung, wenn man nicht auf dem Rad sitzt, die Federung wird durch Gepäck negativ beeinflusst und der Motor wirkt in den langsamen Gängen recht laut. Das kann dem Fahrvergnügen aber nur wenig anhaben. Insgesamt bietet das Rad höchstes technisches Niveau.
Alle Infos zum Rad gibt es auf der Bulls-Homepage.
René Filippek
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