Interview: Brüssels Mobiltätsministerin über die Verkehrswende in Brüssel
Im Interview erzählt Elke Van den Brandt, Mobilitätsministerin der Metropolregion Brüssel, wie die Verkehrswende in Brüssel vorangeht und welche Maßnahmen besonders erfolgreich waren und wo Schwierigkeiten liegen.
Die belgische Hauptstadt Brüssel erfindet sich neu – sie will weg von der auto-bequemen Infrastruktur und mehr fürs Fahrrad tun. „Good Move“ heißt der bis 2030 laufende Infrastrukturplan, der den Menschen in Brüssel ein gesünderes Leben ermöglichen soll.
Brüssel macht mit Zehn-Jahres-Plan bei der Verkehrswende Druck
Lediglich sechs Prozent der Wege in Brüssel werden nach Angaben des Mobilitätsministeriums der Hauptstadtregion mit dem Fahrrad zurückgelegt. Die seit Juli 2019 amtierende Regionalregierung will das mit ihrem Zehn-Jahres-Plan „Good Move“ radikal ändern und macht Druck, um Brüssels Straßen fahrradfreundlich umzubauen.
Die Mobilitätsministerin der Hauptstadtregion, Elke Van den Brandt, geht mit gutem Beispiel voran und fährt mit dem Rad ins Ministerium. Bei schlechtem Wetter nutzt sie statt des Dienstwagens lieber den öffentlichen Personennahverkehr. Ihre Mitarbeiter:innen können Dienstpedelecs nutzen.
Interview mit Brüssels Mobilitätsministerin
Elke Van den Brandt erklärt im Interview, mit welchen Maßnahmen sie die Menschen zum Umstieg bewegen will.
Viele trauen sich nicht mit dem Rad auf die Straße
Im gut 1,2 Millionen Einwohner:innen zählenden Großraum Brüssel ist offenbar das Auto das bequemste Verkehrsmittel, um zur Arbeit zu gelangen oder die Kinder zur Schule zu bringen. Wie wollen Sie das ändern?
Viele trauen sich noch nicht mit dem Rad auf die Straße. Um die Menschen zur umweltfreundlicheren Fortbewegung zu motivieren, ist der Umbau der auf das Auto ausgerichteten Infrastruktur entscheidend. Darum haben wir seit meiner Amtsübernahme 2020 als Erstes entlang der Regionalstraßen, die durch Brüssel führen, vierzig Kilometer provisorische Radwege angelegt. Sie werden sukzessive zu permanenten Radwegen ausgebaut. Wir zeigen damit: „Das Radfahren
durch Brüssel funktioniert gut; es gibt sichere Wege.“
Zahl der Radfahrenden in zwei Jahren verdoppelt
Wie wirkt sich der Radwege-Booster auf die Straßen Brüssels aus?
Innerhalb meiner ersten beiden Amtsjahre konnten wir die Zahl der Radfahrenden verdoppeln und Ende 2021 den Millionsten feiern – 2022 registrierten unsere Zählstationen schon im August eine Million Radfahrende.
Solche radikalen Maßnahmen erzeugen bestimmt auch Gegenwehr, oder?
Allerdings, viele haben Angst vor Veränderung. Von den 19 Bezirksbürgermeistern meinen einige, ohne Auto gehe die Welt unter. Wenn wir in ihren Bezirken Straßen- und Parkflächen zugunsten der Radfahrenden umbauen wollen, zeigen sie auf den Verkehr und sagen: „Seht, hier radelt doch niemand – also brauchen wir auch keinen Radweg!“ Aber ich setze mich dann immer mit dem Argument durch, dass der provisorische Radweg wieder wegkommt, wenn er nicht ausreichend genutzt wird. Bisher ist noch jede Radspur geblieben, denn sobald es sie gibt, werden die vom motorisierten Verkehr getrennten Wege von immer mehr Radfahrenden genutzt.
Tempo 30 findet schnell Akzeptanz und hat viele Vorteile
Anfang 2021 setzte Ihr Ministerium die Tempo-30-Zone für das gesamte Stadtgebiet durch. Wie haben die Leute das angenommen?
Zu Beginn des Tempolimits musste mich die Polizei schützen. Ich wurde beschimpft, mit dieser Maßnahme würde ich die Stadt in den Ruin treiben. Es war schrecklich. Ein Bezirksbürgermeister wollte partout bei Tempo 50 bleiben, aber die meisten Bewohner:innen wollten, dass die Autos langsamer durch das Stadtviertel fahren, und belegten ihren Willen
durch eine Abstimmung: Drei Viertel waren für Tempo 30, ein Viertel war dagegen. Die Menschen haben Tempo 30 schnell akzeptiert, denn die Wirtschaft floriert, und der Verkehr läuft seitdem flüssiger: Es gibt weniger Staus. Autos brauchen im Schnitt genauso lange wie vor der Umstellung, müssen aber nicht mehr so viel abbremsen. Die Stadtluft hat
sich merklich verbessert. Es gibt weniger Verkehrsunfälle. Der Lärmpegel hat sich seit dem um die Hälfte verringert. Die Geschäftswelt floriert, seit immer mehr Straßen für Autos verboten werden. Die Umsätze in der Chaussee d’Ixelles zum Beispiel sind nach dem Umbau zur Fußgängerzone so stark gewachsen, dass sie mittlerweile die beliebteste Einkaufsstraße in Brüssel ist.
Auf ehemaligen Parkplätzen unterhalten sich nun Menschen und Kinder toben herum … Reicht das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn zum Beispiel Autofahrer:innen keine Parkplätze mehr finden?
Wir führen nur konsequent weiter, was die meisten möchten: eine lebenswerte Stadt, in der man nicht auf ein Auto angewiesen ist. Mobilität – die Art und Weise, wie Menschen von A nach B gelangen – hat großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Noch werden in Brüssel 70 Prozent des öffentlichen Raums von Autos belegt. Wir nehmen also den privilegierten Motorisierten gezwungenermaßen etwas weg – aber es ist der einzige Weg, um die Stadt verändern zu können und um neue Gewohnheiten zu etablieren.
Anreize setzen, damit Menschen ihr Auto stehenlassen
Sie streichen nicht nur Privilegien, Sie setzen auch Anreize. Was bekommen Menschen, die ihr Auto stehenlassen?
Wer feststellt, dass ein Leben auch ohne Auto möglich ist, bekommt von der Brüsseler Regionalregierung Gutscheine bis zu 1.000 Euro für die Abschaffung des eigenen Pkws und kann sich dafür ein ÖPNV-Abo oder ein Fahrrad kaufen. Sozial Bedürftige, die kein Auto haben, das sie verkaufen könnten, haben über das Sozialamt die Möglichkeit, kostenlos ein Fahrrad zu leihen. Flankierend gibt es Kurse, in denen sie lernen, sicher mit dem Rad durch die Großstadt zu fahren oder das Fahrrad zu reparieren. Die Kurse sind schnell ausgebucht und wir haben lange Wartelisten. Darum habe ich das Budget für die Fördermaßnahme mittlerweile verdoppelt. 95 Prozent der Teilnehmenden sind übrigens Frauen: Sie profitieren besonders von der Möglichkeit, ihren Alltag mit dem Fahrrad zu bewältigen – Radfahren macht die Frauen
unabhängiger und freier. Es kostet nichts und fördert ihre Gesundheit.
Wie finanziert Ihr Ministerium diese Ausgaben?
Wir kalkulieren langfristig. Durch mehr Radverkehr können wir Gesundheitsausgaben von durchschnittlich 1.400 Euro pro Einwohner:in für die Behandlung von Atemwegserkrankungen senken. Wir sparen Geld, wenn die Leute aufs Fahrrad umsteigen. Radeln ist gut für die Gesundheit und macht uns glücklicher.
Stadtbezirke werden umstrukturiert
Wie entlasten Sie die Leute, die auf ein Auto angewiesen sind?
Wir strukturieren die 19 Brüsseler Stadtbezirke um. Die Menschen hier sollen in ihrer Nachbarschaft alle wichtigen lokalen Einrichtungen wie Schulen, Praxen, Geschäfte, aber auch Kulturstätten innerhalb von zehn Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichen können. Neben den lokalen vergessen wir aber auch überregionale Strecken nicht und bauen sie konsequent aus. So war bisher die durch Brüssel verlaufende Route EuroVelo 5 nicht ausgeschildert.
Touristische EuroVelo-Route ausgeschildert
Europas Hauptstadt war ein weißer Fleck auf der Landkarte des Europa verbindenden Radfernwegenetzes EuroVelo?
Ja, und ich habe zwei Jahre gebraucht, um alle bürokratischen Hürden aus dem Weg zu räumen, damit Radreisende ihren Weg wegen fehlender Streckenbeschilderung an Brüssels Stadtgrenze nicht mehr verlieren. Ich empfehle Radreisenden jedoch nicht nur die Durchreise, sondern auch die Erkundung der Stadt mit dem Fahrrad. Mittlerweile gibt es nämlich so wie in Flandern ein Knotenpunktsystem, mit dem Tourist:innen auf acht unterschiedlichen Rundwegen die Sehenswürdigkeiten Brüssels erkunden können.
Seit die Brüsseler „Vélorution“ im Sommer 2013 begann, hat sich sehr viel zum Positiven entwickelt. Doch die Metropole zählt immer noch zu den chaotischsten Städten ...
Es gibt noch sehr viel zu tun, aber das Wichtigste haben wir in Brüssel bereits erreicht: einen Bewusstseinswandel. Wir finden uns nicht mehr damit ab, Europas dreckige Hauptstadt zu sein. Und wir sind auf dem besten Weg, das zu ändern.
Vélorution: Sonntagspicknick auf Asphalt
Der Umbau Brüssels begann mit Picknicks: Vor zehn Jahren kreuzten den zentralen Place de la Bourse noch vollgestopfte mehrspurige Straßen. Bis ein Brüsseler Aktivist im Sommer 2013 über die Sozialen Medien genau hier zu einem sonntäglichen Picknick aufrief. Tausende folgten seinem Aufruf und brachten den Autoverkehr zum Erliegen. Die Sonntagspicknicks hörten erst auf, nachdem die Brüsseler Regierung begann, die Straßen rund um das alte Börsengebäude zu Europas größter Fußgängerzone umzugestalten. Heute säumen große Pflanzkübel die von Fußgänger:innen und Radfahrer:innen bevölkerten Wege.
Interview: Elke Saur
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