Experimentierraum schaffen
Professor Dr. Andreas Knie ist damit beauftragt, das fast autofreie „Projekt Grafekiez“ in Berlin wissenschaftlich zu begleiten. Wir haben ihm gefragt, wie schwer es ist, ein solches Vorhaben im Autoland Deutschland umzusetzten.
Professor Knie leitet die Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Die Forschungsgruppe ist vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg damit beauftragt, das „Projekt Grafekiez“ wissenschaftlich zu begleiten.
Das Modellprojekt ist deutschlandweit einzigartig: Nirgendwo sonst sollen so viele Parkplätze wegfallen, wie im belebten Graefekiez zwischen Kreuzberg und Neukölln in Berlin. 2.000 Parkplätze sollten ursprünglich umgewidmet werden – für mehr Grün, Aufenthaltsraum und den Lieferverkehr. Wir haben bei Prof. Dr. Andreas Knie nachgefragt, wie schwer es ist, ein solches Vorhaben im Autoland Deutschland umzusetzen.
Der hochverdichtete Graefekiez hat alles in der Nähe
Wieso wurde ausgerechnet der Graefekiez ausgesucht, um hier 2.000 Parkplätze umzuwidmen?
Der schon seit den 1980er-Jahren verkehrsberuhigte Graefekiez ist perfekt dafür geeignet, ein Leben auch ohne Auto als täglichem Verkehrsmittel auszuprobieren. Die Bewohner:innen haben hier alles in der Nähe, was sie zum Leben brauchen. Es gibt eine U-Bahn, Busverbindungen, viele Arztpraxen, Schulen, Kitas, Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants, Cafés, ein Kino und vieles mehr. Der Kiez ist gleichzeitig hoch verdichtet. Hier leben fast 32.000 Menschen pro Quadratkilometer.
Als dann die Corona-Pandemie ausbrach und dringend mehr Platz an der freien Luft zur Fortbewegung und zum Aufhalten geschaffen werden musste, gleichzeitig der Lieferverkehr immer mehr zunahm, war der Zeitpunkt gekommen, die Idee anzugehen.
Experimentierraum für mehr aktive Mobilität
Ich kam mit Felix Weisbrich, dem sehr aktiven Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes Friedrichshain-Kreuzberg, ins Gespräch, ob man im Graefekiez durch Umwidmung der Parkplätze mehr Platz für Bewegungsräume schaffen könne. Wir waren uns einig, dass das Parken die Achillesferse der Verkehrswende ist. Der Bezirk hat dann mit einem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung 2022 das Projekt eines fast autofreien Graefekiez gestartet.
Was genau ist das Ziel des Projekts?
Das Ziel ist, in einem Experimentierraum den Parkraum umzunutzen und mehr Platz für Grün, für Sitz- und Spielgelegenheiten, für aktive Mobilität und Lebensqualität zu schaffen. Wichtig war von Anfang an, dass das Auto nicht gänzlich ausgeschlossen wird.
Es soll eher um einen Shared-Space gehen, der für alle Verkehrsteilnehmer:innen sicher ist. Angesichts des zunehmenden Lieferverkehrs war klar, dass auch Flächen für diesen bereitgestellt werden müssen. Alle Maßnahmen sind vorläufig und müssen durch die Bezirksverordnetenversammlung nochmals bestätigt werden. Wenn das klappt, können sie dauerhaft eingerichtet oder sogar noch ausgebaut werden.
Wie ist der Stand heute?
Ursprünglich sollten 2.000 Parkflächen im Graefekiez ersetzt werden. Nur leider mussten wir dann feststellen, dass dies mit dem derzeitigen Verkehrsrecht nicht so leicht umsetzbar ist. Wir haben dann umgeplant und das Projekt in zwei Stufen geteilt. Im ersten Schritt, der nun fast beendigt ist, haben wir 400 Stellflächen entfernt, die Flächen entsiegelt und begrünt oder Lade- und Lieferflächen dafür geschaffen.
Zudem wurden Jelbi-Stationen eingerichtet, an der sich die Menschen Fahrräder, E-Autos und andere Verkehrsmittel ausleihen können. Und wir haben Diagonalsperren auf den Straßen geschaffen, um Durchgangsverkehr zu verhindern. Inzwischen ist es viel angenehmer geworden im Kiez, man kann minutenlang umherlaufen und man sieht kein fahrendes Auto, das schätzen auch die Bewohner:innen. Im Mai 2024 wird nun entschieden, ob auch die zweite Stufe umgesetzt wird, also weitere 1.600 Parkplätze umgewidmet werden.
Wie ist die Resonanz aus der Bevölkerung?
Vor Beginn des Versuches haben wir 2022 im ganzen Bezirk eine repräsentative Befragung machen lassen, ob ein autofreier Graefekiez Zustimmung erhält. Zwei Drittel der Bevölkerung war dafür. Das war auch für uns ein überraschendes Resultat. Selbst die Mehrheit der Autofahrer:innen unterstützten die Idee.
Zwei Drittel der Bevölkerung unterstützt die Idee
Das war neu, normalerweise sind die Autofahrenden meist gegen das Abschaffen von Parkplätzen. Aber da scheint es ein Umdenken und die Einsicht gegeben zu haben, dass das Auto in diesem Kiez nur sehr selten benötigt wird. Der hohe Zuspruch zum Projekt wurde im Herbst 2023 – nach der Umwidmung der ersten 400 Parkplätze – bei einer zweiten Befragung bestätigt.
Gab oder gibt es gar keinen Widerstand?
Den größten Widerstand gab es im ersten Jahr. Ein Drittel der Befragten war ja nicht so begeistert. Dazu gehören zum einen jene, die in kritischen Infrastrukturen wie Krankenhäusern arbeiten, Gewerbetreibende oder auch mobilitätseingeschränkte Menschen, die objektiv auf eigene Fahrzeuge angewiesen sind.
Graefekiez ist nicht ganz autofrei
Und es gibt aber auch jene, die es als subjektive Einschränkung ihrer Freiheit verstehen, das eigene Auto nicht vor der Haustür stehen zu haben. Das sind zum Teil auch alte Linke, die per se gegen das Eingreifen des Staates sind – also freien Platz für freie Bürger:innen fordern. Diese Gruppe ist medial sehr präsent und wird von der Presse gerne genutzt. Dazu kommen im Kiez auch viele Menschen, die nicht deutscher Herkunft sind. Bei ihnen hat das Auto teils noch einen sehr hohen Stellenwert als Statussymbol, es herrschen ganz andere Wertestrukturen vor, da waren die Maßnahmen schwer zu vermitteln.
Aber im Moment haben wir eine sehr friedliche Stimmung. Das liegt auch daran, dass es eben ein nicht ganz autobefreiter Kiez ist. Wir haben gelernt, dass die Akzeptanz der Maßnahmen steigt, wenn es im Viertel eine Mischnutzung gibt und nicht das völlige Ausschließen des Autoverkehrs.
Wie haben Sie die Bürger:innen mitgenommen?
Es gab richtig viele Möglichkeiten, sich zu informieren und den Kiez mitzugestalten. Wir haben die Bürger:innen über die Bezirksverordnetenversammlung und über das Amtsblatt des Bezirks informiert, es gab Postwurfsendung und fünf öffentliche Bürgerversammlungen, zu denen alle Bewohner:innen eingeladen waren. Zusätzlich haben wir Fokusgruppen für mobilitätseingeschränkte Menschen, für Menschen mit Nicht-deutscher Herkunft und für die Gewerbetreibenden organisiert.
Und es gab wöchentlich einen Tag der Bürgerbeteiligung im Kiez, an dem man sich über das Projekt informieren und jederzeit alles, was man zum Projekt auf dem Herzen hatte, loswerden konnte. Natürlich haben wir auch über unsere Website und die Medien kommuniziert.
Wie wie schwierig ist es, einen (fast) autofreien Kietz in Deutschland einzuführen?
Man muss sich vergegenwärtigen, dass Deutschland noch am Anfang des Prozesses steht, dem Auto nach Jahrzehnten der autofixierten Straßen- und Stadtplanung ein wenig Platz für andere Nutzungen abzuringen. Die Möglichkeit, das eigene Auto überall abstellen zu können, gehört zu den attraktivsten Eigenschaften des Autos.
Veraltetes Straßenverkehrsrecht ist Klotz am Bein
Es war eine Erbsünde der Politik, den öffentlichen Raum den parkenden Autos einfach herzuschenken. Wir stellen nun Selbstverständlichkeiten in Frage, über die nie einer gesprochen hat. Das erzeugt natürlich erstmal eine Gegenwehr.
Erschwert wird dies auch durch unser veraltetes Straßenverkehrsrecht. Danach muss man zunächst durch Unfallzahlen nachweisen, dass eine Gefahr für Verkehrsteilnehmer:innen in den betreffenden Vierteln besteht. Es ist zum Verzweifeln: Wenn man keine Verkehrstoten nachweisen kann, kann man vor Ort fast nichts für die Verkehrswende tun. Das ist ein großer Klotz am Bein beim Umsetzen sinnvoller Maßnahmen für mehr Lebensqualität und Klimaschutz.
Der Bundesrat hat die wichtige Reform des Straßenverkehrsrechts im Herbst vergangenen Jahres blockiert, die den Kommunen mehr Möglichkeiten zur Förderung der Alternativen zum Auto gegeben hätte. Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass die Mobilitätswende in Deutschland kommt?
Unsere Gesellschaft ist auf dem Auto aufgebaut, und zwar nicht nur physisch durch die Infrastruktur, sondern auch mental. Sobald es an Maßnahmen für weniger Autoverkehr geht, schreckt die Gesellschaft auf: Aber was ist denn dann mit der Autoindustrie? Als ob das, was Deutschland noch zusammenhält, ausgerechnet die Autoindustrie wäre. Wir tun uns im internationalen Maßstab damit einfach deutlich schwerer.
Deutschlands Kommunen kommen in Bewegung
Die gute Nachricht ist aber, dass es in ganz Deutschland Bewegung auf kommunaler Ebene gibt – trotz der schwierigen rechtlichen Lage und trotz der jahrzehntelangen Autoabhängigkeit. Ob jetzt der Graefekiez, die Innenstadt von Hannover oder das Projekt autofreies Ottensen in Hamburg: Es gibt genügend Gegenden in Deutschland, wo die Verkehrswende quasi natürlich passiert, weil es dort einfach keine Not für Autos gibt. Weil die Stadt der kurzen Wege schon existiert. Diese Orte schaffen eine gelebte Praxis, die zeigt, wie es geht und die sich dann gut verbreiten lässt. Es ist schwer, gar keine Frage, aber es möglich.
Interview: Almut Gaude
Transparenzhinweis: In der ersten Fassung des Interviews wurde fälschlicherweise angegeben, es lebten im Gaefekiez fast 32.000 Menschen auf einem Hektar. Richtig ist: Fast 32.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Wir haben die Angabe korrigiert.
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